Berliner Zeitung
Donnerstag, 27. Mai 2004

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Feuilleton

 

Shadowtime
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• Ich denke, also sing ich
Komposition Brian Ferneyhough

Libretto Charles Bernstein

Musikalische Leitung Jurjen Hempel

Inszenierung Frédéric Fisbach

Bühne Emmanuel Clolus

Kostüme Olga Karpinsky

Darsteller Neue Vocalsolisten Stuttgart; Nicolas Hodges (Klavier solo/Stimme), Mats Scheidegger (Gitarre); Nieuw Ensemble Amsterdam



Ich denke, also sing ich

Die Biennale für neues Musiktheater in München ging mit Ferneyhoughs "Shadowtime" zu Ende

Klaus Georg Koch

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 Shadowtime

Unter Sängern ist es so, dass die Vollgültigkeit sich erst mit dem Singen in der Oper einstellt. Ein Sänger kann im Chor-, Oratorien- oder Konzertfach brillieren - tritt er nicht in der Oper auf, fehlt ihm etwas. Und obwohl unter den musikalischen Gattungen die Oper nicht die vornehmste ist, gilt das Gleiche auch für Komponisten. Nennen wir es den Brahms-Komplex: Irgendwann im Lauf seiner Karriere muss ein namhafter Komponist seine Arbeit in der hybriden Welt der Oper zur Bewährung aussetzen. Auf Lachenmanns Oper hat man 20 Jahre lang gewartet, "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" wurde zum Ereignis. Jetzt hat ein weiterer Großmeister neuer Musik "seine" Oper vorgestellt, der 1943 geborene Brian Ferneyhough. Am Dienstag wurde "Shadowtime" als letzte von fünf Uraufführungen der Biennale für neues Musiktheater in München vorgestellt.

Anders als Lachenmann unternimmt es Ferneyhough nicht, der Gattung ein neues Modell zu geben. In der Oper vermengen sich Gesang und Bewegung, Instrumentalspiel und Bühnendekoration, hoher und niederer Stil? Dann soll die Oper das haben!, mag sich der mit Kammermusik bekannt gewordene Ferneyhough gedacht haben. So spannt er "Shadowtime" aus zwischen existenzieller Spekulation und Varieté, zwischen Konstruktivität und Radau.

Im Gegensatz zu vielen Opern unserer Zeit besitzt "Shadowtime" eine Handlung, von der sich erzählen lässt. Walter Benjamin tritt auf in dem Moment, in dem seine Flucht vor den Nationalsozialisten an der spanischen Grenze ans Ende kommt, sein Abstieg in die Unterwelt wird musikalisch inszeniert, am Ende der fünften von insgesamt sieben Szenen verschwindet Benjamin aus dem Werk. Man darf diese Handlung nur nicht als Form einer Geschichte verstehen, eher ist sie Merkmal einer musikdramatischen Form, die sich ebenso im Gitarrenkonzert, im Melodram oder im Klavierrecital verwirklichen kann. So mag man "Shadowtime" eine Oper "über" Walter Benjamin nennen, oder eine Oper "mit" Walter Benjamin. Ganz bestimmt wirkt der Philosoph in ihr mit seinen Vorstellungen von der vielfältigen Interpretierbarkeit der Welt. Ferneyhoughs Oper ist selbst ein Stück Philosophie. Sie ist Philosophieren mit den Mitteln von Sprache und Musik.

Man darf sich auch dieses Philosophieren zunächst wieder in seiner szenisch konkretesten Form vorstellen: als Dialog. In der ersten Szene wird in einer von sechs Bedeutungsschichten das Ende von Benjamins Flucht gespielt, auf einer andern aber diskutiert Benjamin mit seinem theologischen Freund Gershom Sholem, auch Friedrich Hölderlin tritt ins Gespräch. In der zweiten Szene wird die Philosophie figurativ: Mit Bezug auf Benjamins berühmte Allegorie vom Engel der Geschichte hat Ferneyhough ein Konzert für Gitarre und Kammerensemble geschrieben, in dem man, wenn man will, das Wirken der Zeit an der Trümmerstruktur der musikalischen Gegenstände erkennen kann. Ferneyhough erklärt, er habe die Szene aus 128 Fragmenten von zwei- bis fünfzehnsekündiger Dauer zusammengesetzt. "Dabei war ich darauf bedacht, jedem etwas weniger Zeit zu gewähren, als zu seiner Erkenntnis erforderlich wäre." Die Taubheit des Hörens habe er so kompositorisch dar- und hergestellt.

Und schließlich haben Benjaminsche Vorstellungen über Identität und Veränderlichkeit von Gegenstand und Interpretation die Form von "Shadowtime" bis in deren Elemente bestimmt. So trägt die dritte Szene den Titel "Doctrine of Similarity", Lehre von der Ähnlichkeit. In ihr hat der Librettist mit verschiedenen Techniken der Permutation Reihen und Felder aus Sprache hergestellt, es gibt durch Zahlenverhältnisse bestimmte Veränderungen von Wort- und Satzfolge, aber etwa auch die Übersetzung von Heine-Gedichten nach klanglichen, nicht bedeutungshaften Kriterien (das englischsprachige Libretto klingt dann ähnlich, bedeutet aber etwas anderes als das Original). Der Komponist wählte für die Szene eine Form aus "13 Kanons", die sich verwandter Permutationstechniken bedient.

Das spekulative Kunstgebäude von "Shadowtime" ist mit diesen Hinweisen nur ganz aus der Ferne angedeutet; für die komplexe und hyperdetaillierte Notation seiner musikalischen Ideen ist Ferneyhough ohnehin berühmt. Anders als man jetzt erwarten könnte, wird in dieser Oper jedoch ausgiebig und klangvoll gesungen. Es gibt kantatenhaften Chorgesang, der sich in der Tongebung vom Gesang etwa Benjamin Brittens kaum unterscheidet (Engländer scheinen dazu genetisch verdammt). Es gibt aber auch Szenen, meist dialogischer Natur, in denen sich die Stimmgebung ins Groteske erweitert, auf eine Art, die zuletzt vergleichbar Peter Eötvös in "Drei Schwestern" zum Prinzip gemacht hat. Weder das Denken noch die notierte Komplexität drehen also dem traditionell körperhaften, strömenden Singen den Hals zu. Hier steht Ferneyhough der Menschendarstellung der traditionellen Oper sehr nah.

In dieser Frage liegt allerdings der ästhetische Grund, warum die Oper heute für Komponisten so wichtig ist. Die avancierten Modelle, die in der Kammermusik oft funktionieren, führen bei der Begegnung mit der Menschendarstellung der Oper oft eine Krise herbei - auf beiden Seiten. Werke wie Lachenmanns Oper, bei dieser Biennale zuletzt auch Marc Andrés "...22,13..." lassen im Vergleich zur Höhe der Instrumentalen Technik den durch seine Stimme repräsentierten Menschen alt aussehen. Das zeigt sich auch in der szenischen Realisation: Vielfach ist ihren ersten Regisseuren noch nichts Überzeugendes eingefallen, was über das Hören hinaus an Wahrnehmbaren inszeniert werden könnte.

Ferneyhough stellt den Menschen nun als Musizierenden wieder her. Die Musiker seiner mit phantastischem Einfallsreichtum komponierten Musik vollbringen auch Bewundernswertes, man sieht ihnen gerne zu. Die Musik selbst ist dramatisch, wer sich in das Konzept versenkt, hat an dem Reichtum gleichzeitigen Agierens und Symbolisierens einiges Vergnügen; da ist einiges los. Und so hat der Regisseur der Uraufführung Frédéric Fisbach die Musiker selbst, in Form von Cartoons auch das bizarre Panoptikum der historisch-mythologischen Szenen offensiv auf die Bühne gebracht. Selbst für den guten alten Scherenschnitt fand sich Verwendung.

Der Gedanke, dies alles sei doch wieder die Welt von gestern, drängte sich trotz der Überforderung des ersten Hörens auf. Ist die Musik wirklich schon das ganze Theater? Sind der Mensch, der singt, und der Mensch, der denkt, beide schon Zitate, Requisiten, tauglich für eine unterhaltsame Nummer? Ferneyhough greift Benjamins Engel unter die Arme um die Trümmer der Geschichte neu zusammenzufügen. Der Engel wollte trösten. Ob Ferneyhough nur eine Oper geschrieben hat, wäre in einer neuen, kritischen Inszenierung zu prüfen.