Skip banner Home   Sources   How Do I?   Site Map   What's New   Help  
Search Terms: charles bernstein
  FOCUS™    
Edit Search
Document ListExpanded ListKWICFULL format currently displayed   Document 1 of 7. Next Document


Copyright 2004 AG für Die Neue Zürcher Zeitung NZZ
All rights reserved
Neue Zürcher Zeitung

28. Mai 2004

RUBRIK: Feuilleton; 44

LÄNGE: 1153 words

ÜBERSCHRIFT: Flüsteroper, Gedankenoper

AUTOR: Hagmann P.

TEXT:


Mark André und Brian Ferneyhough in München

Da war nun sozusagen alles hinweggefegt, was zur guten alten Oper gehört. Dass die Stücke keine Geschichten mehr erzählen, versteht sich bei der Münchener Biennale für neues Musiktheater inzwischen von selbst; unter der Leitung von Peter Ruzicka hat sich das 1988 von Hans Werner Henze begründete Festival ja zur Aufgabe gemacht, dem nichtnarrativen Musiktheater auf die Sprünge zu helfen (vgl. NZZ vom 21. 5. 04). In ". . . 22, 13". . ." von Mark André gibt es aber nicht einmal mehr ein Libretto; der 1964 in Paris geborene Komponist verwendet zwar Texte aus dem Johannes-Evangelium und aus der Offenbarung des Johannes, doch bilden diese Fragmente eher einen Teil der gedanklichen Grundlage seines Stücks - geflüstert und über Lautsprecher eingespielt, bleiben sie in der Aufführung selbst so gut wie unverständlich.

Kein Ton

Selbst die Musik wirkt akut gefährdet. Gesungen wird kaum, schon eher gewispert, gestammelt, gewürgt - und das ausschliesslich von (insgesamt sieben) hohen Frauenstimmen, während bei den Instrumenten das Tiefe dominiert. So ist auch die Tonhöhe als prägender Parameter weitgehend ausser Kraft gesetzt, und Rhythmisches artikuliert sich in heftigen Schlägen, weniger jedoch in durchgehender zeitlicher Strukturierung - über weite Strecken scheint das musikalische Geschehen wie stillzustehen. Dafür wird der Klang durch das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestrundfunks in Freiburg i. Br. mit seinen reichhaltigen Mitteln vielfach elektronisch bearbeitet und in den Raum projiziert. Vor allem aber sitzen Zuschauer und Zuhörerin mitten im Geschehen, denn während sich das Szenische vorn auf der Bühne abspielt, sind die Sängerinnen und das Philharmonische Orchester der Staatstheater Mainz in insgesamt vier Gruppen um das Auditorium herum verteilt.

Die Konstellation erinnert sehr an "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern", die 1997 in Hamburg uraufgeführte Oper Helmut Lachenmanns - und tatsächlich gehört Lachenmann zu den wichtigsten Lehrern Andrés. Dennoch hat ". . . 22, 13". . ." als eigenständiges Werk Bestand, geht diese "Musiktheater-Passion" in ihrer Verweigerungshaltung doch noch einen Schritt weiter als die Oper Lachenmanns, zieht sie aber gleichzeitig durch einen ganz eigenen Reiz an und lebt sie von einer schwer erklärbaren Spannung. Der Titel bezieht sich auf jene Stelle in der Offenbarung des Johannes, in der vom A und O, vom Anfang und Ende die Rede ist, doch vermitteln sich die biblischen Bezüge ebenso wenig wie die Tatsache, dass das dreiteilige, gut eineinhalb Stunden dauernde Stück in seiner Konstruktion auf die beiden Schachpartien zurückgeht, bei denen der Grossweltmeister Gary Kasparow 1997 gegen den Computer "Deep Blue" verloren hat. Vollends verschlüsselt bleibt am Ende die Anspielung an den Phantomzug, der 1944 von Frankreich aus nach Dachau unterwegs war - das lange Verklingen in leisesten Geräuschen macht Eindruck auch ohne diesen Bezug.

Was sich hier aber verwirklicht, ist eine theatralische Aktion, in der Hörbares und Sichtbares in eine besondere Interaktion zueinander treten. Das geht zunächst auf die musikalische Umsetzung zurück, die unter der Leitung des Dirigenten Peter Hirsch in ungeahnte Bereiche der geräuschhaften Differenzierung vorstösst, vor allem aber auf die Inszenierung, mit der sich das Staatstheater Mainz in der Münchner Muffathalle in vorteilhaftes Licht gestellt hat. Als Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion geht sein Intendant Georges Delnon, der designierte Basler Theaterdirektor, von einer ganz strengen Choreografie bildlicher Assoziationen aus, an der, in meist seitlichem Licht, sieben Darstellerinnen und Darsteller, sieben schwarze Quadrate und sieben parallel geführte Förderbänder beteiligt sind - ein Ballet mécanique der eigenen Art.

Eine Benjamin-Oper - zum Zweiten

Während ". . . 22, 13". . ." gezeigt hat, dass Verzicht und Verweigerung keineswegs zu einem Verlust an sinnlichem Reiz führen müssen, kam es bei "Shadowtime", der lange erwarteten ersten Oper von Brian Ferneyhough, zu einer herben Enttäuschung, weil das gut zweistündige, im Rahmen einer internationalen Kooperation im Prinzregententheater aus der Taufe gehobene Werk ganz den Prämissen der ehemaligen Avantgarde verpflichtet bleibt. Gewiss, das Handwerk des 1943 geborenen Briten ist von blendender Wirkung: bei der Lektüre der Erläuterungen, beim Blick in die Partitur, beim Zuhören. Ob er sich die Kunst der mittelalterlichen Motette aneignet, ob er an den Tonfall der seriellen Musik anschliesst, ob er sich in rein elektronischem Klang übt - Ferneyhough tut es stets aus einem schier unerschöpflichen Fundus an konstruktiver Phantasie heraus. Und was, unter der Leitung von Jurjen Hempel, die Neuen Vocalsolisten Stuttgart sowie das Nieuw Ensemble Amsterdam hier geleistet haben, übertrifft ohnehin jede Erwartung.

Aber hermetisch wirkt dieses Stück, in sich verschlossen und abweisend. "Shadowtime", eine Assemblage von sieben sehr unterschiedlichen Szenen, die über einen Zeitraum von fünf Jahren entstanden sind und zum Teil auch einzeln aufgeführt werden können, befasst sich mit dem Schicksal von Walter Benjamin, der sich 1940, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, an der französisch-spanischen Grenze das Leben genommen hat - nach "Angelus Novus" des Ferneyhough-Schülers Claus-Steffen Mahnkopff (Uraufführung bei der Münchener Biennale 2000) eine zweite Oper über Benjamin. Die Textvorlage stammt von dem Amerikaner Charles Bernstein, der in seinen Dichtungen weniger von inhaltlichen Aspekten als vom sprachlichen Material an sich ausgeht. So wird die Gedanken- und Gefühlswelt Benjamins in jenem tragischen Herbst in einer Fülle von Situationen und Assoziationen ausgelegt, die sich in ihrer strukturellen Beschaffenheit jeweils konkret auf die Musik auswirken.

Zu verstehen ist davon allerdings herzlich wenig, aber immerhin so viel, dass sich diese Art des Neuen Musiktheaters an einen Kreis von Eingeweihten oder vielleicht an gar niemanden richtet. Dazu kommt, dass die Musik in ihrer geradezu manieristischen Zuspitzung, ihrem gesteigerten Bewegungsdrang und ihrer beständigen Nervosität, währt sie denn einen Abend lang, durchaus markante Gegenreaktionen auslösen kann. Da und dort mag man an den "Scardanelli-Zyklus" denken, der sich vielleicht ebenfalls szenisch aufführen liesse, doch ist Heinz Holliger weit weniger an intellektueller Akrobatik als an psychischen Extremzuständen interessiert - was sich sehr direkt im klanglichen Ergebnis niederschlägt. Da vermochte auch die bewegte, vielfach mit Schattenwirkungen arbeitende Inszenierung von Frédéric Fisbach nicht viel zu retten. Als Kabinettstück ironischer Artistik unvergesslich bleibt aber das Schattenspiel für einen sprechenden Pianisten mit dem Titel "Opus contra naturam", in dem Nicolas Hodges Fingerfertigkeit und lakonischen Sprachwitz miteinander verbunden hat.

Peter Hagmann

UPDATE: 28. Mai 2004




Document 1 of 7. Next Document
Terms & Conditions   Privacy   Copyright © 2004 LexisNexis, a division of Reed Elsevier Inc. All Rights Reserved.