Westdeutsche Zeitung

 4. Oktober 2005

Brian Ferneyhoughs Musikdrama "Shadowtime" in
Bochum : Die Reise in eine andere Welt

Großer Abend der RuhrTriennale: Brian Ferneyhoughs theatralisches Musikdrama "Shadowtime" über Walter Benjamins Tod führt in in eine Welt außerhalb der Welt.

Von Sophia Willems

Bochum . Wie in Stahlgewittern expressiv und doch zugleich hoch sensibel umfängt den Zuhörer von Anfang an die gewaltige Komposition des 1943 geborenen Briten Brian Ferneyhough. Zwar wird Ernst Jünger nirgendwo genannt, doch ist sein unbarmherziger Kriegsgeist immer gegenwärtig in diesem ungeheuerlichen "nicht-christlichen" Requiem auf den jüdischen, in Berlin lehrenden marxistischen Kulturphilosophen Walter Benjamin, der sich im September 1940 auf der aussichtslos gewordenen Flucht vor den Nazi-Schergen im spanischen Hafen Port Bou das Leben nahm.

Der Aufführung des siebenteiligen Werkes bei der RuhrTriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle ging eine mehrjährige Kooperation voraus, an der die Münchner Biennale für zeitgenössische Musik, wo es 2004 uraufgeführt wurde, und für frühere Teile die Carnegie Hall London, das Flandern Festival Leuven, das Musee d`Orsay, das Ensemble Intercontemporain und das elektronische Studio von Pierre Boulez "Ircam" in Paris kooperierten.

Es braucht so exquisite Ensembles wie die Neuen Vocalsolisten Stuttgart und das Nieuw Ensemble Amsterdam mit dem Dirigenten Jurjen Hempel, mit wahrlich staunenswerter Perfektion das hochkomplexe Gebilde Ferneyhoughs zum Leben zu erwecken. Dabei tragen die 17 Stuttgarter Sänger ihren Namen zu Recht, denn ihre Partien sind solistisch angelegt, auch wenn sie a-cappella scheinbar einen Chor bilden und dennoch 48-stimmig (!) singen bei zeitgenössischer Musik eine Höchstanforderung an Gehör und Intonation. Ferneyhoughs Komposition ist ein zweieinhalbstündiges Feuerwerk, eine beständig durchlaufende, hochkomplexe und eng ineinander verwobene Textur. Dem Ohr wird noch mehr geboten durch die ungewöhnlichen Klangfarben aus dem 18-köpfigen Kammerorchester, das mit Streichern, aber auch mit einer Vielfalt von Blasinstrumenten besetzt ist, darunter Bassflöte, Kontrabassklarinette und Diskantposaune sowie Harfe, Gitarre, Klavier und einem Percussionisten, der allein an sieben Pulten herumwirbeln muss.

 

Überdies sind den Teilen solistische Partien zugeordnet. Unvergesslich etwa Nicolas Hodges, der einmal ein wahrlich sprühendes Klavierkonzert absolviert, dazu virtuos wie ein Stimmenzauberer rezitieren muss und gleichzeitig auf einem Podest auf der Bühne herumgefahren wird.
Man hört nämlich nicht nur im Übermaß, sondern sieht auch auf der von Frederic Fisbach gestalteten Bühne (Licht-Desgin: Marie-Christine Soma) eine Fülle. Nicht leicht, denn Ferneyhough und sein Librettist Charles Bernstein kreisen nicht etwa um den Lebenslauf Benjamins, sondern um seine Gedankenund Erlebniswelt, die am letzten Tag ihn noch einmal überkommen haben mag, um die "Schattenzeit" vor dem Tod.

Erinnerungen an seine Frau Dora, Kinderreime für Söhnchen Stefan, ein innerer Dialog mit dem jüdischen Mystiker Gershom Scholem und mit Friedrich Hölderlin eröffnen das Geschehen. Im Scherenschnitt sieht man ihn übers Gebirge wandern, "Haschisch in Marseille" und Las Vegas sind fiktive Stationen.

Dann treten, teils als karikierende Pappmaches, "die zwei Marxe" Groucho und Karl, Papst Pius XII., Rabbi Baal Schem Tov, Hitler und Jeanne d`Arc auf, fragen, höhnen, insistieren, verlangen Rechenschaft. "Benjamin" Ekkehard Abele (Bassbariton) räsonniert, gekrümmt und gebeugt.

Weit entfernt, aufgrund ihres philosophisch-theologischen Themas eine verkopfte Musik zu sein sie bleibt immer intensiv sinnlich besitzt der Schlussteil klanglich noch einmal eine völlig andere, neue Färbung. Zur verfremdeten Stimme Ferneyhoughs elektronisch eingespielte Musik löst Hyperanspannung, Erregung und Todesangst auf.

Wie aus der anderen Welt erhält hier Benjamins zentrale philosophische Metapher vom "Engel der Geschichte" als metaphyisch sinnstiftender Verbindung zur Welt ihre in den Klängen verifizierte Gestalt: Wir befinden uns in einer Welt außerhalb der Welt.