Die Welt
28. Mai 2004
RUBRIK:
Feuilleton; 28 123
L�NGE: 770 words
�BERSCHRIFT: So klingt es im Kopf von Walter;
Die Benjamin-Oper "Shadowtime" als M�nchner Biennale-Finale
AUTOR: Egbert Tholl
TEXT:
Die Biennale ist nicht unbedingt daf�r da, dem Zuschauer einen gem�tlichen Abend
zu verschaffen. Hier wird gegen den kulinarischen Konsum gewirkt. Diese Haltung
teilt das 1988 von Hans Werner Henze gegr�ndete Festival f�r Neues Musiktheater,
das Beste, was M�nchen in Sachen kulturellen Aufbruchs zu bieten hat, durchaus
mir anderen Institutionen, die sich nicht mit der perfektionierenden Wiedergabe
des Immergleichen zufrieden geben wollen. Peter Ruzicka, seit 1996 Chef der
Biennale, nennt als Aufgabe der Urauff�hrungseinrichtung deshalb zumeist, Wegbeschreibungen
auf einen Weg zu einer zweiten Moderne zu geben. Dass dabei immer wieder gepflegte
Zumutungen herauskommen, liegt in der Natur der Sache.
Bei der neunten M�nchener Biennale, die dieser Tage zu
Ende geht, wurde der Zuschauer zun�chst auf klare F�hrten angesetzt. Es gab eine
swingende Edgar-Allan-Poe-Vertonung und eine Kammeroper nach
klassisch-chinesischem Vorbild, so klassisch gar, dass man sich fragte, warum
man die Sehnsucht nach Exotismus nicht gleich mit einem Direktimport
befriedigte. Doch der Eindruck, man k�me als Zuschauer diesmal intellektuell
ungeschoren davon, trog. Die Zeit der R�tsel brach an mit "Cantio" von Vykintas
Baltakas, einer Sprachoper als rhetorischem Spiel �ber den Beginn des Gesangs.
Oskaras Korsunovas inszenierte das einst�ndige Werk, in dessen letzter
Viertelstunde tats�chlich gesungen wurde, allerdings als so beeindruckendes
Bildertheater in einer an Ilya Kabakov gemahnenden B�hneninstallation, dass
dabei ein ziemlich unterhaltsamer Theaterabend herauskam. In wie weit jedoch
Baltakas' St�ck ohne die performative Wucht seines litauischen Landsmanns ein
echtes Eigenleben besitzt, lie� sich nicht wirklich entschl�sseln.
Doch immerhin waren, allein schon �ber das Moment des
Entstehens von was auch immer, darin genug narrative Elemente enthalten, die den
Fluss der Musik hinreichend legitimierten. Was man von "... 22, 13...", einer
Art Schachoper von Mark Andr�, kaum behaupten konnte. B�hnenfiguren und
biblische Inhalte wurden nach einem kryptischen Bauplan herum geschoben,
Johannes-Evangelium und Apokalypse mit Holocaust verquickt. Mit solchen Themen
entzieht man sich der Kritik, auch wenn die mit absurdem Aufwand dargebotene
Musik der eruptiven Stille durchaus ihren Reiz hatte. Als Konzert.
Der H�hepunkt der Biennale im Prinzregententheater war zum
Abschluss dann ein von vornherein gesetzter: Brian Ferneyhoughs erste Oper. Der
31-j�hrige Brite hat seit je her einen gesunden Drang nach musikalischer
Komplexit�t; dass er selbst zudem "Shadowtime" als "Gedankenoper" bezeichnet,
verhie� nicht unbedingt ein sinnliches Erlebnis der w�steren Art.
Es ist nicht unbedingt Aufgabe zeitgen�ssischen
Musiktheaters, klare Wege des Verst�ndnis' vorzugeben. Doch wer das Gesamtwerk
Walter Benjamins in fr�hen Jahren mit rot gl�henden Ohren unter der Bettdecke
gelesen hat, der kommt bei "Shadowtime" ganz gut durch. Denn darum geht es: Um
den letzten Tag im Leben des gro�en Philosophen, als ihm auf der Flucht vor der
Nazibarbarei die Einreise nach Spanien verwehrt wird und er selbst seinem Leben
ein Ende setzt.
So beginnt die Oper, hinreichend narrativ; schroffe musikalische Kleinstgebilde,
die sich nicht einer gewissen S�ffigkeit verweigern, wuseln umher. Doch freilich
verlassen Ferneyhough und sein Librettist Charles Bernstein flugs die Au�enwelt
und nisten sich im Denken Benjamins ein. Vom Wortinhalt her ist "Shadowtime"
eine intellektuelle Tiefenbohrung, eine Spirale ins Innere des Geistes. Mit
einem echten Diskurs mit Gershom Scholem, mit einem fiktiven mit H�lderlin,
mit einem Abstieg in die Unterwelt, wo Benjamin von Ikonen der ihn umgebenden
Zeitgeschichte befragt wird, den Golem von Prag inklusive. Sholems Golem quasi.
Das klingt r�tselhaft und ist es auch. Es ist
aber auch unfassbar �berw�ltigendes Theater. Nicht nur wegen der Emphase der
Neuen Vocalsolisten Stuttgart, nicht nur wegen der Leistung des Nieuw Ensemble
Amsterdam. Sondern weil Ferneyhough hier ein Best-of-Ferneyhough geschrieben
hat: Chorfugen und madrigaleske Formen, ein Kammerkonzert f�r Gitarre und
Orchester, ein Melodram f�r einen sprechenden Pianisten. Man kann sich alle
Teile einzeln aufgef�hrt denken (was partiell auch schon geschehen ist), doch
wundersamer Weise flie�en sie zusammen und bilden als einzelne Zellen eine
konsumierbare Struktur. Beim einmaligen Sehen (und H�ren) ist "Shadowtime" kaum
in G�nze zu fassen; doch die Anteilnahme am Ende eines gro�en Geistes r�hrt
gewaltig.
Der Komponist nennt "Shadowtime"
"Gedankenoper". Das verhie� kein sinnliches Erlebnis der w�steren Art.
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