DIE ZEITJune 3, 200424/2004
Bombe im 57. Stock Die zeitgenössische Oper hat ein schwindelerregendes
Abstraktionsniveau erreicht. In neuen Stücken von Mark André, Brian Ferneyhough
und Adriana Hölzsky liegen Gipfelsturm und Absturz ganz dicht beieinander Ingeborg Bachmann nannte es die „Gegenzeit“. So hat sie
1958 in ihrem Hörspiel Der gute Gott von Manhattan die totale Grenzüberschreitung
bezeichnet. Eine Grenzüberschreitung durch die Liebe, weit über das Leben
hinaus. Zwei Fremde ohne Ziel, ein Mann und eine junge Frau, laufen sich
in den Straßenschluchten von Manhattan über den Weg und steigen in einem
schäbigen Stundenhotel ab. Gepackt von existenzieller Einsamkeit, Selbstverlorenheit
und Leidenschaft finden sie zueinander, steigern sich in einen Rausch
der Zuneigung, mieten sich von Nacht zu Nacht in immer höheren Stockwerken
des Hotels ein – bis sie in der allerletzten Etage, dem 57. Stock, am
Endpunkt ihres Höhenfluges angelangt sind. „Ich bin mit dir und gegen
alles. Die Gegenzeit beginnt“, sagt er. Es tritt der gute Gott von Manhattan
auf und stellt eine Kofferbombe ab. Sie detoniert als erlösende Befreiung
von allen irdischen Zwängen und als Auslöschung aller Utopie. Brian Ferneyhoch:
"Shadowtime" - Walter Benjamin wird von Albert Einstein verhörtFoto: Regine
Koerner, Monika Rittershaus Auch Adriana Hölzsky, die in Stuttgart lebende rumänische Komponistin,
sucht immer nach dem Schritt in die ekstatisch gefährliche Gegenzeit.
Lange hat sie sich nach einem Sujet für ihre jüngste Oper umgesehen, bevor
sie sich für den Bachmann-Stoff entschied. Wobei ihr Interesse weniger
den tristanesken Liebesrauschmotiven gilt als vielmehr dem Schluss. Sie
entwickelt die Geschichte aus dem Moment der großen Detonation und jagt
das enigmatische Dichterhörspiel in die Luft. Sie schlitzt es auf, pulverisiert
es, nagt hässliche Löcher in die schönen Stellen. Die Formen zersplittern
in ihrer Oper. Die Perspektiven in ihren imaginären Klangräumen kippeln
wie Wackelbilder. Und dem Zuhörer fliegen die musikalischen Brocken nur
so um die Ohren: verschepperte Blechbläserklänge, ausgefranste Cembalotriller
und schwarzes Trommelgrollen, gehäckselte Koloraturen und hysterisch stampfjaulende
Choreinschübe. Als wolle die Komponistin mit ihrer Partitur den gedehnten
Moment eines einzigen großen Auseinanderbrechens in Klang setzen. Der
gute Gott von Manhattan ist ein chaotisch rumorendes Stück, und wie
immer bei Adriana Hölzskys Bühnenwerken kann man sich fragen, ob das,
was da bei den Schwetzinger Festspielen als Uraufführung durch das kleine
barocke Schlosstheater tobt, noch viel mit dem Begriff Oper zu tun hat.
Hölzskys Fantasie kommt überhaupt nur in Fahrt, wenn sie die obersten
Knöpfe drücken kann in dem Aufzug, der weg führt von den Konventionen
der Gattung. Musiktheater muss bei ihr immer hinauf in den 57. Stock –
und noch ein bisschen höher. Geschichten werden nicht mehr erzählt Da ist sie nicht die Einzige. Die Großstadtdesperados in dem Bachmann-Stoff,
die sich der Welt entfremden und in immer schwindelerregenderen Hochetagen
Unterschlupf suchen, beschreiben auch den Weg, den die moderne Oper insgesamt
genommen hat – immer weiter weg vom wirklichen Leben, immer höher in die
hermetischen Sphären der Kunst. Das zeitgenössische Musiktheater spielt
sich heute in einer atemberaubenden Abstraktionshöhe ab, und die formensprengende
Kofferbombe möchte jeder Komponist erneut auf seine Weise zünden. Schöne Geschichten werden in der Gegenwartsoper schon lange nicht mehr
erzählt. Der leidende, singende Held von einst, zu dem sich der Zuschauer
identifikatorisch hingezogen fühlte, hat ausgedient. Überhaupt ist Gesang
keine Selbstverständlichkeit mehr. Das multipel aufgespaltene und mehrfach
auf der Szene erscheinende Opern-Ich ist ebenso erfunden wie das bildlose
Hörtheater in imaginären Klangräumen. Die verarbeiteten Texte werden semantisch
aufgebrochen und bis in ihre lautsprachlichen Energien hinein ausgehört.
Und die Entwicklung geht immer weiter. Das hat dem zeitgenössischen Musiktheater eine krasse Außenseiterposition
eingetragen. In den Stadttheaterkontext lässt es sich kaum noch integrieren.
Ein größeres Publikum ist über die Expertenszene hinaus schwer zu gewinnen,
obwohl die Werke in ihrer experimentellen Kraft immer wieder zu großen
Kunstabenteuern avancieren. Die Position des gesellschaftlichen Off, aus
der heraus die Komponisten schreiben, bleibt für die Stücke nicht ohne
Folgen: Isolation, Unverstandensein, das Scheitern in und an der Welt
schlägt sich in der Musik nieder. Die Komponisten schreiben an gegen die
große Oberflächlichkeit und glatte Konsumierbarkeit. Sie behaupten ihre
eigenen, nicht leicht zugänglichen Orte der Fantasie. Sie lassen nicht
locker in dem Anspruch, den unübersichtlichen Verhältnissen in der fortgeschrittenen
Moderne auch entsprechend komplexe Kunstwerke zur Seite zu stellen. Angesprochen
auf den Umgang mit der Zeit in ihren Kompositionen, hat Adriana Hölzsky
einmal darauf hingewiesen, dass heute jeder „sein eigenes Drama, seine
eigene Erlebniszeit“ in sich trage. Höchst unterschiedlich sei etwa die
Zeiterfahrung im Krieg für die bombardierenden Piloten in der Luft und
für die Menschen unten auf der Erde, die die Explosion in quälend gedehnten
Sekunden wahrnähmen. „Aber genau dieses Gewirr verschiedener Zeiten, dieser
schwindelerregende Wechsel der Perspektiven, betrifft im Kern mein Komponieren.“ Natürlich gibt es auch Komponisten, die ihre Stücke wieder mehr am Musikdrama
des 19. Jahrhunderts auszurichten versuchen oder an der gu-ten alten Literaturoper
festhalten. Sie aber haben bei der Münchner Biennale für zeitgenössisches
Musiktheater kaum Chancen, seit Peter Ruzicka die künstlerische Leitung
des von Hans Werner Henze gegründeten Festivals übernommen hat. Während
Ruzicka als amtierender Festspielchef in Salzburg ein gemäßigtes, abenteuerarmes
Programm durchwinkt, können ihm in München die Projekte nicht ehrgeizig
genug sein bei der Suche nach der von ihm propagierten „zweiten Moderne“.
In der diesjährigen Biennale-Ausgabe hat er (neben weniger auffälligen
Uraufführungsproduktionen von Johannes Maria Staudt, Qu Xiao-song und
Vykintas Baltakas) seine bislang stärksten Verfechter dieses erneuerten
Avantgardeanspruchs ins Programm geholt: den französischen Komponisten
Mark André und den Engländer Brian Ferneyhough. Der eine ist ein Schüler
von Helmut Lachenmann, der andere ist 61, Lehrer in Stanford. Gemeinsam
mit Adriana Hölzsky sind sie angetreten, um zu zeigen, dass das zeitgenössische
Komponieren keineswegs in die Endlosschleifen der Postmoderne eingeschwenkt
ist, dass es ein Weiterkommen sehr wohl noch gibt. Allerdings scheint
es gebunden an die Betrachtung des Katastrophischen, keiner kann den Blick
lassen von den Abgründen der Gegenwart. Es ergeht ihnen wie dem „Engel
der Geschichte“ in Walter Benjamins berühmter Interpretation des Bildes
von Paul Klee: Vom Fortschrittssturm, der sich in seinen Flügeln verfangen
hat, wird er in die Zukunft geblasen, aber mit weit aufgerissenen Augen
starrt er auf die Trümmer der Vergangenheit. Düstere Endzeitvisionen offenbaren alle drei Werke, wenn auch in unterschiedlichem
Lichteinfall: Hölzskys kreischender Dekonstruktivismus mit ihrem hysterisch
jaulenden Countertenor-Gott als Zeremonienmeister lustvoller Zerstörung
wirkt da am grellsten und hellsten, fast fröhlich. André hat demgegenüber
ein brütendes, nachtschwarzes Untergangsszenario imaginiert. Und Ferneyhough
arbeitet sich am gescheiterten Leben Walter Benjamins ab: Er schickt die
leuchtenden Denkstrahlen des Kulturphilosophen durch das Prisma seines
musikalischen „Komplexismus“ und lässt die Zuhörer das Spiel der Brechungen
beobachten. Der Mensch richtet sich zugrunde durch das, was er selbst schafft. Mark
André hat das an einem Schachspiel festgemacht. 1996 verlor der Weltmeister
Gary Kasparow spektakulär gegen den IBM-Computer Deep Blue – ein erster
Triumph der künstlichen Intelligenz über den Menschen. Er hat die Zeichen
der Zeit aber auch mit Hilfe der Bibel erkannt. Texte aus der Offenbarung
des Johannes hat er in sein Stück integriert und es nach einer Versstelle
aus der Apokalypse …22,13… genannt. Außerdem stand ihm beim Komponieren
Ingmar Bergmanns Film Das siebte Siegel vor Augen, in dem
der Kreuzritter Block Schach gegen den Tod spielt und verliert. Angesichts von so viel hochgetürmtem Zivilisationspessimismus wundert
man sich, dass der Franzose überhaupt zu einer Musik gefunden hat. Es
ist ein Raunen, Heulen, Quietschen und Zarttönen, mit kaum hörbaren gewisperten
Texten und Vokalisen, in das die Texte und das Assoziationsmaterial eingesunken
sind. Dass die legendäre Schachpartie mit den impulsgebenden Zügen und
den Grübelpausen phasenweise als minutiöser Strukturplan für das Klanggeschehen
dient, kann man nur beim Lesen der Partitur erkennen, hörend nachzuvollziehen
ist es kaum. Die Musiker sind im Karree um das Publikum postiert, es dominieren
die dunklen Instrumentalfarben, Schnarchklänge der Kontrabässe, Grollgeräusche
der tiefen Blechbläser. Live-elektronisch werden die Töne verarbeitet
und irrlichtern im Raum. Die Referenzstücke von …22,13… sind offenkundig: Luigi Nonos „Tragödie
des Hörens“ Prometeo klingt von Ferne mit und Das Mädchen
mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann, bei dem André offenkundig
den luziden Umgang mit Reibe-, Kratz- und Luftgeräuschen gelernt hat.
Musik „am Rande des Verstummens“, wie der Franzose sie konzipiert, hat
das 20. Jahrhundert schon reichlich hervorgebracht. So eigenständig sein
Komponieren ist, einen wirklich neuen Ton hat er mit dem Stück nicht gefunden,
eher schon ein suggestives Zeitmaß – quälende Superzeitlupe. Der Regisseur der Uraufführung, Georges Delnon, hat das aufgegriffen
und lässt eine Reihe schwarzer Schachquadrate auf der leeren Spielfläche
langsam vorüberziehen, hinter denen Menschen auftauchen und wieder verschwinden
– stumme Kreaturen, die herumstehen, liegen, kriechen, expressiv die Glieder
verdrehen und an unsichtbaren Lasten schwer zu tragen haben. Schachfiguren,
die man nach dem großen Matt noch nicht vom Brett geräumt hat. Wäre Deep Blue kein Schachcomputer, sondern eine mit der kompletten Musikgeschichte
und allen Kunstgriffen moderner Verarbeitungstechniken gefütterte Tonsetzermaschine,
gäbe es nur einen Komponisten, den man mit Siegchancen gegen ihn antreten
lassen könnte – Brian Ferneyhough. Man muss nur einen Blick in seine Partituren
werfen, um zu ahnen, was in seinem Kopf so alles vorgeht. Beschriebenes
Notenpapier des Engländers ist auf den ersten Blick wie ein Schock – ein
Gewimmel von Noten auf engstem Raum, ein undurchdringlich gezacktes Liniengestrüpp,
zusammengehalten durch dicke Zweiunddreißigstel- und Vierundsechzigstel-Balken.
Auf labyrinthische Weise sind die Dinge ineinander verschlungen und durch
schwer durchschaubare Bezugssysteme miteinander vernetzt. In Ferneyhoughs
Kompositionen muss alles furchtbar schnell gehen und immer aberwitzig
viel gleichzeitig passieren. Die Intervallsprünge greifen extrem weit
aus, ständig variiert das Metrum. Die notierten Rhythmen sind schier irrational,
wenn auf wenigen Takten polymetrische Überlagerungen im Verhältnis 7:4,
14:9 und 12:9 parallel verlangt werden, zu spielen mit zwei Händen am
Klavier und über allem ein leichtes Rallentando im Tempo. Ferneyhough pocht in seiner Musik auf die unbedingte Herausforderung
(und Überforderung) aller geistigen Kräfte. Er schreibt das Erbe von Anton
Webern und den Serialisten fort. Er besteht auf dem Fortschritt des Materials.
Aber ein bisschen scheint neben der Lust am elaborierten Denken seine
Hand auch geführt zu werden von der Furcht, den selbst gesteckten hohen
Ansprüchen nicht genügen zu können, so strukturell überabgesichert wirken
seine Werke. Als müsse er sie unangreifbar machen und gegen die Niederungen
des wirklichen Lebens regelrecht abdichten. In der fünften Szene seiner
ersten Oper Shadowtime, die ebenfalls in München uraufgeführt
wurde, habe er gut 800 Jahre abendländische Musikgeschichte im Schnelldurchlauf
durchmessen und im letzten der elf Teile die Form von Beethovens Großer
Fuge auf eine Zeitspanne von 48 Sekunden komprimiert. So klingt dann
auch seine Musik: expressiv verdichtet bis zum Gehtnichtmehr, überbordend
gedankenreich, kristallklar funkelnd, aber auch einschüchternd und unnahbar. Durch den großen Dekonstruktionsschredder Wer aus einer Aufführung von Shadowtime kommt und gefragt wird,
worum es in dem Stück geht, hat ein Problem. Es geht nämlich um alles,
um das große Ganze der Kunst und der Philosophie und der Moderne und insbesondere
um Walter Benjamin, aber nur am Rande um dessen Biografie, die mit dem
Selbstmord 1940 in Port Bou auf der Flucht vor den Nationalsozialisten
endete. Ferneyhough hat selbstverständlich nicht die Leidensgeschichte
Benjamins in Töne zu kleiden versucht, sondern dessen Theorien. Er nennt
seine Komposition eine „Gedankenoper“. Von dem amerikanischen Poeten Charles Bernstein hat er sich eine Textkomposition
als Libretto schreiben lassen, die durch den großen Dekonstruktionsschredder
gedreht ist. In sieben Szenen ist das Stück gegliedert, die jeweils Benjaminsche
Aspekte umkreisen. Ein Gitarrenkonzert reflektiert in stürzender, fragmentierter,
immer zu kurz „abgeschnittener“ Motivik den „Engel der Geschichte“. Ein
Klaviersolo mit gesprochenen Texten ist als Abstieg in die Hölle der entfesselten
Kulturindustrie gedacht. In Doktrin der Ähnlichkeit erklingen
13 kunstvoll gesetzte Kanons eines 48-stimmigen Chors. Einmal muss Benjamin
(den es als Bühnenfigur nur ansatzweise gibt) Befragungen von Papst Pius
XXII., Albert Einstein und Adolf Hitler über sich ergehen lassen. Mit
einem Requiemsatz Stelen für die verfehlte Zeit endet die Oper.
Und lässt den Zuhörer erschlagen von so viel musikalischer Informationsdichte
zurück. Dem Regisseur Frédéric Fisbach ist es offenbar nicht viel anders
gegangen: Hilflos hat er mit Schattenspielen, gezeichneten Riesenprospekten
und gesichtslosen Puppen versucht, ein bisschen Bildersalat über der erratischen
Komposition auszuschütten. Peter Ruzicka hat die Uraufführung vorab als einen historischen Termin
des neuen Musiktheaters angekündigt. Aber der war es allenfalls, was die
Leistungen der Ausführenden um den Dirigenten Jurjen Hempel und die Neuen
Vocalsolisten Stuttgart angeht – Unglaubliches haben sie vollbracht. Das
Stück selbst hat einen kleinen Systemfehler: Es will von der Bühne, für
die es komponiert ist, nicht viel wissen. Ferneyhough lässt sich auf keinen
Flirt ein mit der von jeher promiskuitiv, halbseiden und verführerisch
daherkommenden Kunstform Oper. Er hat seinem Komponierstil via Text und
Bild nur ein paar weitere Strukturschichten hinzugefügt. Als ob es ausgerechnet
daran gemangelt hätte. |