Frankfurter Allgemeine Zeitung
27. Mai 2004
RUBRIK:
Feuilleton; Feuilleton; S. 37
L�NGE: 1160
words
�BERSCHRIFT: Dar�ber kann man lange
gr�beln;
Bei der M�nchner Urauff�hrung von Brian Ferneyhoughs Oper
"Shadowtime" trifft Walter Benjamin auf Hitler und den Golem
TEXT:
Die Partituren des
englischen Komponisten Brian Ferneyhough, in seiner Sonderstellung einer der
namhaftesten Protagonisten der Neuen Musik, z�hlen zum Kompliziertesten, was je
notiert wurde. Da gibt es Passagen, in denen das Metrum mit jedem Takt wechselt,
wobei irrationale Werte vorherrschen. Die ausget�ftelten rhythmischen
Verh�ltnisse dieser Musik grenzen ebenso ans kaum mehr Ausf�hrbare wie ihre
mikrotonalen Subtilit�ten und ihr Filigran dynamischer Abstufungen, das mitunter
von Note zu Note variiert, auf engstem Raum etwa �berg�nge zwischen einem
sforzato, einem subito piano und einem dreifachen forte fordert. Mit akribischem
Gestaltungswillen hat Ferneyhough das Erbe des Serialismus weitergedacht, indem
er deren Reihenprozeduren ins Mehrdimensionale steigerte. Selbst die Vielfalt
der Vortragsanweisungen brachte er in eine minuzi�se Ordnung.
Nun pr�sentierte der Verfechter zugespitzter Ausdrucksautonomie im Alter von
einundsechzig Jahren bei der M�nchner Biennale seine erste Oper "Shadowtime"
- und die Musikwelt blickte gebannt darauf, wie wohl die radikal antisemantische
Position seines "Komplexismus" mit den Anforderungen der B�hne �bereinzubringen
sei. Zum Sujet erw�hlte sich Ferneyhough, wie es schon sein Sch�ler Claus-Steffen
Mahnkopf bei der Biennale 2000 getan hatte, den Kulturphilosophen und Schriftsteller
Walter Benjamin. Doch w�hrend Mahnkopf seine Affinit�t zum Denken Benjamins
�ber die Wahl eines theoretischen Bildes, n�mlich der von Klees "Angelus novus"-Gem�lde
inspirierten neunten These "�ber den Begriff der Geschichte", zum Ausdruck brachte,
stellen Ferneyhough und sein Librettist Charles Bernstein jetzt die biographische
Katastrophe ins Zentrum ihrer Thematik: In der Nacht auf den 27. September 1940
hat Benjamin sich auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung
an der franz�sisch-spanischen Grenze das Leben genommen, nachdem man ihm die
Durchreise durch Spanien verweigert hatte. Nichts l�ge dem intellektuellen Anspruch
Ferneyhoughs ferner, als die Trag�die Benjamins zum psychologisierenden R�hrst�ck
zu veropern. Davor bewahren ihn schon Bernsteins hochartifizielle Texte, in
denen das sprachliche Material durch konstruktive und permutative Verfahren
auf �hnliche Weise zum Gegenstand einer Selbstthematisierung ger�t, wie das
musikalische Material in Ferneyhoughs Komposition sich selbst zu reflektieren
scheint.
Es wird keine Geschichte erz�hlt:
weder sprachlich noch musikalisch. Statt dessen kreisen die Autoren ihr Sujet in
einem gro�z�gigen Assoziationsradius ein, greifen biographische Situationen
ebenso auf wie Thesen und Gedanken Benjamins - so etwa auch hier die Allegorie
des "Engels der Geschichte". Sie lassen den Protagonisten in einen fiktiven
Dialog mit Gershom Scholem, dem Historiker j�discher Mystik, sowie mit Friedrich
H�lderlin treten, lassen ihn mit seiner Ehefrau Dora �ber die Macht des Eros
diskutieren, schicken ihn auf eine skurril-phantastische Reise in die Unterwelt
und singen ihm in der letzten Szene ein nichtchristliches Requiem: "Stelen f�r
die verfehlte Zeit". An dessen Ende ist, zugespielt vom Band, auch die Stimme
des Komponisten zu h�ren. Viereinhalb Jahre lang lie� Ferneyhough seine
sch�pferische Phantasie das Thema umschweifen. So entstanden weitgehend autonome
Szenen und Instrumentalmusiken f�r solistisch behandeltes Kammerensemble, die
beinahe s�mtlich auch separat auff�hrbar sind und konzertant zum Teil schon
andernorts zu h�ren waren. Stellenweise gelang ihm eine �berbordend bunte und
wimmelnde, in ihrer exzessiven, bis �ber die Grenze der Wahrnehmbarkeit
getriebenen Differenzierung auch pr�gnante und suggestive Musik.
So geh�ren die Chorst�cke der dritten Szene, "The doctrine of
similarity" �berschrieben, zu den st�rksten Momenten des Werks: kristallin
geschliffene, mal von Schlagzeug, Klavier, Bl�sern oder Violine begleitete, mal
a cappella gef�hrte Miniaturen, die alle das Thema der Nachbildung satztechnisch
auf verschiedenste Weise l�sen und darin ihr je spezifisches Ausdrucksaroma
entfalten. Ein tonloses Zischeln, aus dem heraus sich allm�hlich klangliche
Gestalt artikuliert, pr�gt den Charakter des dritten St�cks, ein str�mender
a-cappella-Gesang die Aura des sechsten. Dem hyperpolyphonen Gewusel eines
anagrammatischen Stotterns im achten Satz stehen die zarten Seufzer-Glissandi
des folgenden gegen�ber. Mikrotonale Melismen im zehnten St�ck schaffen die
Atmosph�re eines introvertierten Klageliedes, eines ganz nach innen genommenen
Weinens. Die Neuen Vokalsolisten Stuttgart leisten hier wie auch an anderer
Stelle Enormes. Sie vollf�hren ein halsbrecherisches �berbr�ckungskunstst�ck,
indem sie den widerstrebenden Anforderungen einer m�glichst exakten technischen
Bew�ltigung einerseits und einer innerhalb engster Grenzen dennoch zu leistenden
expressiven Gestaltung andererseits gerecht werden. Auch dem Nieuw Ensemble
Amsterdam geb�hrt f�r ihr exaktes, zugleich lebendiges Spiel unter Jurjen Hempel
h�chstes Lob. Was Ferneyhoughs Musik freilich mit seinem Sujet zu tun hat, was
die einzelnen Szenen musikalisch zueinanderdr�ngt und welcher �sthetische Impuls
diese lockere Folge von Tableaus vereint, dar�ber kann man lange gr�beln: Das
Werk verr�t es einem kaum. Um die mangelnde Schl�ssigkeit seiner reflexiven
Dramaturgie zu legitimieren, reicht auch Benjamins Begriff der "Konstellation"
nicht hin. Zur B�hne getrieben wurde Ferneyhough wom�glich von dem Wunsch,
seiner hochkomplexen Sprache noch weitere Strukturebenen als Gestaltungsmaterial
einzuverleiben. Doch wie seine Konstruktionsmanie die Hyperdifferenziertheit
seiner Kompositionen bisweilen umkippen l��t in Beliebigkeit, so scheint ihn die
F�lle der M�glichkeiten nun zu einer virtuos inszenierten Leere verf�hrt zu
haben.
Alles sollte noch irgendwie hinein in das gro�e
Benjamin-Opus: der Golem, Adolf Hitler, der chassidische Mystiker Baal Shem Tov
(als Vampir verkleidet), Albert Einstein, Jeanne d'Arc, der
"Stellvertreter"-Papst Pius XII. sowie ein "Zwitterwesen aus Karl Marx und
Groucho Marx mit Zerberus". Sp�testens in dieser f�nften Szene, wenn Benjamin in
der Unterwelt von all den genannten Pers�nlichkeiten ins Verh�r genommen wird
und Fr�d�ric Fisbachs zwar grunds�tzlich �berfl�ssige, sich aber tapfer durchs
Dickicht der Anspielungen schlagende Inszenierung sie als h�llische
Pappkameraden auf die B�hne bringt, wird die Grenze zum Absurden
�berschritten.
Musikalisch wollte Ferneyhough in dieser
Szene nichts weniger, als gute achthundert Jahre Musikgeschichte paradigmatisch
zu durchmessen und nebenbei etwa auch die Form von Beethovens "Gro�er Fuge" in
achtundvierzig Sekunden zu komprimieren. Es hat ihn davongetragen. Von einer
Wende in der Geschichte des Musiktheaters, wie sie der k�nstlerische Leiter der
Biennale, Peter Ruzicka, im Vorfeld der Premiere beschwor, kann jedoch nicht die
Rede sein.
JULIA SPINOLA
H�llische Pappkameraden an Damenchor: Die Flucht durch die Pyren�en ist
noch lange nicht zu Ende.
Foto Regine Koerner
UPDATE: 27. Mai 2004
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