NRZ Spiel der Gedanken RUHRTRIENNALE / Vom Leben und Wirken des Kulturphilosophen Walter Benjamin: Ferneyhoughs Oper "Shadowtime". JOHANNES K. GLAUBER BOCHUM. Ein hochkomplexes, für Ausführende wie Hörer extrem schwieriges Werk, in dessen Zentrum Leben und Denken des marxistischen Kulturphilosophen Walter Benjamin steht. Der Engländer Brian Ferneyhough greift in seiner bei der Münchner Biennale 2004 uraufgeführten Oper "Shadowtime" (Schattenzeit) zu einer ähnlichen Kompositions-Dramaturgie, wie sie auch Peter Rudzicka in seiner Oper "Celan" anwandte: Die Dramaturgie des Überblendens biografischer Ereignisse, fiktiver Begegnungen, die einen weiten Assoziationsradius ermöglicht. "Shadowtime" eignet sich also nicht zum schnellen Genuss. Die Oper erfordert eine auf Hochtouren laufende Fantasie und die Bereitschaft, sich der bisweilen extremen Klangwelt Ferneyhoughs auszusetzen. Und das über zwei Stunden lang. So gesehen, ist dem Triennale-Publikum in der Bochumer Jahrhunderthalle hohes Lob zu zollen. Nur wenige Besucher verließen die Halle vorzeitig. Der Großteil schien fasziniert von den akustischen wie szenischen Ereignissen dieses Triennale-Abends.
Die Aspekte des philosophischen Denkens von Benjamin laufen in der letzten Szene seines Lebens zusammen: Port Bou, in der Nacht des 26. Septembers 1940. Auf der Flucht vor den Nazis nimmt er sich in aussichtsloser Lage in dem französisch-spanischen Grenzort das Leben. Und dieser Augenblick wird zum Aufriss seines Lebens. Komponist Brian Ferneyhough und Librettist Charles Bernstein gliedern ihr Werk in sieben Klang- und Bildstationen. Nach einem von unerhörten Klangballungen und engmaschig verknüpften musikalischen Partikeln durchdrungenen Vorspiel, vom Nieuw Ensemble Amsterdam geradezu beängstigend intensiv absolviert, ließ Regisseur Fre?de?ric Fisbach aus dem Dunkel "lebendige Bilder" auf rollenden Podesten in die Szene fahren - Rückblenden, Erinnerungsfetzen, ineinander verwobene Zeitebenen, dazu philosophische Gespräche mit dem jüdischen Mystiker Gershom Scholem, mit Friedrich Hölderlin. In den tief schürfenden Disput "mischen" sich als spielerisches Element lebensgroße Puppen ein. Rein instrumentale Teile wie das "Kammerkonzert über den Engel der Geschichte", vom Amsterdamer Ensemble unter dem außerordentlich souveränen Dirigenten Jurjen Hempel fabelhaft gespielt, führen hin zu einer ganz besonderen Bravour-Nummer, dem "Ein-Mann-Theater" für einen sprechenden und singenden Bar-Pianisten in Las Vegas. Nicolas Hodges absolvierte das mit einer unerschütterlichen Vehemenz so, als wäre der Spielteufel hinter ihm her. Und immer wieder Videoeinspielungen. Heine-Gedichte, hebräische Schriften aus alten Folianten - sie werden ein Opfer von Flammen. Gewaltige Schattenrisse tauchen auf; Benjamins Flucht über die Pyrenäen, Fratzen, aufgerissene Mäuler, überdimensionale Pappmache?-Gestalten von Albert Einstein, Papst Pius XII., Adolf Hitler. Benjamin ist in der Unterwelt angekommen. Ferneyhough und Bernstein bemühen ferner viel mythologisches Personal, von Jeanne d Arc über den Golem bis zum Höllenhund Zerberus. Das Ganze mündet schließlich in ein "nicht-christliches Requiem" mit einem kühnen Rückgriff in die Frühzeit der Gattung Oper. Dabei widmen sich die sensationell zu nennenden Neuen Vokal-Solisten Stuttgart auf fabelhafte Weise dem alten Madrigal-Stil. Ein musikalisch wie denkerisch ungeheuer forderndes Werk in einer musikalisch wie szenisch kongenialen Präsentation also. So hat es wohl auch das Publikum empfunden. Es applaudierte heftig. (NRZ)
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