Stuttgarter Zeitung
27. Mai 2004
RUBRIK:
KULTUR; 29
LÄNGE: 630 words
ÜBERSCHRIFT: An der Wegkreuzung links oder rechts;
Brian Ferneyhoughs Oper "Shadowtime" beschließt die Münchner Biennale
für neues Musiktheater
TEXT:
Von Egbert Tholl
Die
Münchener Biennale ist nicht unbedingt dafür da, dem Zuschauer einen gemütlichen
Abend zu verschaffen. Diese Haltung teilt dieses Festival für neues
Musiktheater, das Beste, was München in Sachen kulturellen Aufbruchs zu bieten
hat, durchaus mit anderen Institutionen, die sich nicht mit der
perfektionierenden Wiedergabe des Immergleichen zufrieden geben wollen. Peter
Ruzicka, seit 1996 Chef der Biennale, nennt als Aufgabe der
Uraufführungseinrichtung deshalb zumeist, Beschreibungen für einen Weg zu einer
zweiten Moderne zu geben.
In einem Wanderführer aus
den sechziger Jahren, der eine Zeit lang in keinem Münchner Haushalt fehlen
durfte, weil er die beliebtesten Ausflugsrouten in der näheren Umgebung
versammelte, gab es legendäre Wegbeschreibungen mit markanten Angaben wie "an
der Wegkreuzung links". An selbiger Wegkreuzung angelangt, stellte man fest,
dass mindestens zwei Wege nach links und drei nach rechts führten. Das
Wunderbare an diesem Wanderführer war nun, dass es keine große Rolle spielte,
welchen Weg man einschlug; die Wanderung war schön, die Länge am Ende nicht die
angegebene, und zum Auto musste man mit dem Bus zurückfahren. Bei der neunten
Münchner Biennale, die dieser Tage zu Ende geht, wurde der Zuschauer zunächst
auf klare Fährten gesetzt.
Es gab eine
schmissig-charmante Swingoper nach Edgar Allan Poe von Johannes Maria Staud,
eine Kammeroper nach klassisch-chinesischem Vorbild von Qu Xiao-song und
beeindruckendes Bildertheater litauischer Art von (Vykintas Baltakas' "Cantio"),
sodass man fast schon glaubte, die Biennale meine es diesmal lieb mit dem
Publikum. Doch zum Ende hin stand man wieder an der Wegkreuzung und wusste
nicht, wohin. Denn nach einer Schachoper von Mark André, bei der Bühnenfiguren
und biblische Inhalte nach einem kryptischen Plan herumgeschoben wurden, folgte
der Höhepunkt im Prinzregententheater: Brian Ferneyhoughs erste Oper. Der Brite
hat seit jeher einen gesunden Drang nach musikalischer Komplexität; dass er
selbst "Shadowtime" als "Gedankenoper" bezeichnet, verhieß nicht zwingend ein
sinnliches Erlebnis der wüsteren Art.
Es ist nicht unbedingt Aufgabe zeitgenössischen Musiktheaters, klare Wege des
Verständnisses vorzugeben. Doch wer das Gesamtwerk Walter Benjamins in frühen
Jahren mit rotglühenden Ohren unter der Bettdecke gelesen hat, der kommt bei
"Shadowtime" ganz gut durch. Denn darum geht es: um den letzten Tag im Leben
des großen Philosophen, als ihm auf der Flucht vor der Nazibarbarei die Einreise
nach Spanien verwehrt wird und er selbst seinem Leben ein Ende setzt. So beginnt
die Oper, hinreichend narrativ; schroffe musikalische Kleinstgebilde, die sich
nicht einer gewissen Süffigkeit verweigern, wuseln umher. Doch freilich verlassen
Ferneyhough und sein Librettist Charles Bernstein flugs die Außenwelt und nisten
sich im Denken Benjamins ein. Mit einem echten Diskurs mit Gershom Scholem,
mit einem fiktiven mit Hölderlin, mit einem Abstieg in die Unterwelt, wo Benjamin
von Ikonen der ihn umgebenden Zeitgeschichte befragt wird, der Golem von Prag
inklusive.
Das klingt rätselhaft und ist es auch. Es ist aber auch unfassbar überwältigendes
Theater, nicht nur wegen der Emphase der Neuen Vocalsolisten Stuttgart, nicht
nur wegen der Leistung des Nieuw Ensemble Amsterdam, sondern weil Ferneyhough
hier ein Best of Ferneyhough geschrieben hat: Chorfugen und madrigaleske Formen,
ein Kammerkonzert für Gitarre und Orchester, ein Melodram für einen sprechenden
Pianisten. Man kann sich alle Teile einzeln aufgeführt denken, doch wundersamerweise
fließen sie zusammen und bilden als einzelne Zellen eine konsumierbare Struktur.
Und regen in der Gesamtheit an, die Benjamin-Gesamtausgabe wieder hervorzukramen.
Weitere
Vorstellungen heute und morgen jeweils um 20 Uhr
UPDATE: 27. Mai 2004
Copyright 2004 Stuttgarter Zeitung Verlagsgesellschaft GmbH
All rights reserved