Quelle: Süddeutsche Zeitung Der tragische Intellektuelle Markant die erste Begegnung mit ihm, vor dreißig Jahren beim Avantgarde-Musikfestival von Royan an der französischen Atlantikküste: Der junge Engländer Brian Ferneyhough aus Coventry, 31, entpuppt sich als herausragender Musiker seiner Generation. Denn er ist - ein Moderne-Fortsetzer auf der Schiene Schönberg-Webern-Boulez - trotz beginnender Postmoderne ein Komponist und Musikdenker, der die Ausdrucksdichte, einen flammenden Konstruktivismus, auf seine Fahne geschrieben hat. Ernst, mit hochfahrendem Intellekt, eloquent sein kompositorisches Handwerk, seine Ideen verteidigend damals beim schier ausufernden Festival der Uraufführungen, erregt der Baseler Schüler Klaus Hubers mit seinen Werken sofort Aufsehen. Beim 3/4-stündigen Streichquartett im Jahr darauf muss der Hörer erregt mitkritzeln: ¸¸. . . Klang-Simultanereignisse von bestürzender Prägnanz". 1986 in Donaueschingen dann ein ganzes Ferneyhough-Konzert, der siebenteilige Zyklus ¸¸Carceri d"invenzione" (Kerker der Erfindung). Und Brian Ferneyhough 2004, als Opernkomponist bei der Münchener Biennale? Die Prägnanz, die Präzision unverändert. Gleich zu Beginn der Uraufführung von ¸¸Shadowtime", der Oper - mehr einem szenischen Labortest - zur Jahrhundertfigur Walter Benjamin, gleich nach wenigen Takten der sofort nach Geistesgegenwart und Verdichtung klingenden Kammermusik ist klar: Ferneyhough hat weder seine kompositionstechnischen Ansprüche an sich selbst noch seinen brennenden Ausdruckswillen heruntergeschraubt. Der Blick ins Libretto und die Partitur der (teilweise bereits aufgeführten) sieben Abschnitte des Werkes hatte es verdeutlicht: Wir sitzen nicht im narrativen Operntheater, sondern in einer philosophischen ¸¸Gedankenoper". Am nächsten Tag teilt die Deutsche Presseagentur uns allerdings mit, dem Stück fehle die ¸¸Sinnlichkeit". Fünf Jahre lang hat Ferneyhough, mittlerweile Lehrer an der berühmten Stanford University in Kalifornien, an den sieben Teilen seiner ¸¸Schattenzeit" gearbeitet. Sein Thema ist unsere Vergangenheit: die tragische Gestalt, Lebensform, zwiespältige Funktion des europäischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert, ausgebildet in dem deutsch-jüdischen Kulturphilosophen Walter Benjamin. Die Oper lokalisiert auf der Außenseite nur einen Augenblick, den letzten im Leben Benjamins - als er 1940, vor den Nazis nach Frankreich geflohen und an Spaniens Grenze am Transit (in die USA) gehindert, den Freitod der Abschiebungskatastrophe vorzieht. Entscheidend aber, was sich im Inneren eines weitgespannten Reigens von Figuren, Texten, Zeichen und Klangverläufen abspielt. Das beginnt mit dem Aufriss der Zeiten, der Situation eines Flüchtlings in der Kriegszeit, der zurückblickt auf die Lebenszeit. Schichten überlagern sich: Reflektierende Zeit, ¸¸erlösende" Zeit - mit dem Religionsphilosophen und Benjamin-Freund Gershom Scholem und mit Hölderlin als Instanzen. Der amerikanische Dichter und Literaturtheoretiker Charles Bernstein hat, in diversen Rhythmisierungen und Aggregaten, ein Libretto der poetisch-philosophischen Sprachmaterialien geschrieben, die dem Komponisten das Entscheidende erlauben: den freien permutativen Umgang mit Texten und Kontexten. Aus dem Geheimnis Denn exemplarisch für Ferneyhough ist Benjamins (Denk-)Figur gerade in ihrer prismatischen Fülle der Aspekte und Bedeutungen. Etwa so, wie Gershom Scholem ihn mit einem Adorno-Zitat sehen wollte: ¸¸Was Benjamin sagte und schrieb, klang, als käme es aus dem Geheimnis. Seine Macht aber empfing es durch Evidenz." Geheimnis und Evidenz bleibt Ferneyhough zwei pausenlose Stunden auf der Spur, und die Oper bezieht daraus - bei aller rationalen Helligkeit - einen fast düster-hypnotischen Traum- und Rätselcharakter. Unmöglich, rasch ¸¸nachzuerzählen", was sich in den Klang- und Bildstationen vollzieht - vielfältig im Wechsel der Text- und Bedeutungsperspektiven zwischen Leben und Erinnerung, Wort, Klang und Autosuggestion. Der Vorbereitung zum Tode folgt der fiktive Abstieg Benjamins in die Unterwelt, mit einer Befragung durch die Zeitgenossen, komponiert als Konzentrat europäischer Polyphonie in einer vokalen Strukturdichte, wie man sie so vielleicht noch nie gehört hat. Als Überhöhung der Katastrophe spielt der Benjaminsche ¸¸Engel der Geschichte", nach Paul Klees Bild, eine zentrale Rolle. Es sind die Bücher und ihre Schicksale, die Erinnerungs- und Todesrituale, es ist abgründige Fremdheit, was in Sprach- und Klangbildern und in Leinwandprojektionen aufleuchtet. Es gleicht einem Wunder, dass das ¸¸Shadowtime"-Kaleidoskop überhaupt das Bild einer dramaturgischen Einheit vermittelt. Da gibt es das große, verrückt-virtuose Klaviersolo des ganzen vierten Teils (Nicolas Hodges), gemeint als Vision von Las Vegas, Tor zur Unterwelt. Oder die rein kammervokal gebauten Abschnitte. Als Glücksfall entpuppt sich das Ensemble der Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Wie sie rhythmisch-dynamische Exaktheit in der ungeheuer elaborierten Partitur erarbeiten, bei Tongebung, Zusammenklang, Sprungtechnik, erscheint geradezu märchenhaft. Und die Musiker des Nieuw Ensemble Amsterdam unter der sensationell analytischen und ambitionierten Leitung des jungen Jurjen Hempel bieten ein Optimum an Präzision und Leuchtkraft. Die Finalpassagen atmen die Schönheit komplexesten Belcantostils. Dass eine Musiktheatereinheit wahrgenommen wird, hängt auch mit der bei aller Langsamkeit leichten, raffinierten Inszenierung des Franzosen Frédéric Fisbach zusammen. Er lässt, in den bewegungsintensiven, teilweise requisiten-witzigen Bildern von Emmanuel Clolus, Behutsamkeit walten bei der Skizzierung eines traurigen ¸¸Helden" (von Ekkehard Abele als Chiffre des Wartens, der Ergebenheit dargestellt). Grandios der letzte Teil (¸¸Stele für die verfehlte Zeit"), das verschwenderisch schön für Stimmen auskomponierte Klang- und Licht-Crescendo einer schwerelosen Trauer. Soll man sagen, die Leidenschaft für das Denken und die musikalische Tiefendimension in diesem Werk stünden einer ¸¸Sinnlichkeit" im Wege? Man kann: Aber es ist Kunstleidenschaft pur. Also doch: spannend. Hat sich der Hörer erst einmal davon verabschiedet, es mit einem griffigen ¸¸Plot" zu tun zu haben, wie ihn Romane, Filme, auch Opern zeitgeistig am besten haben sollen, um ¸¸verstanden" zu werden, kann er, befreit von allen Erwartungen und Absichten, sich einlassen auf Hör-Abenteuer einer Musik der kunstvollsten Komplexität. Mag auch an dem Problem, wie etwa hier die Texte dem Zuhörer besser übermittelt werden, noch zu arbeiten sein. Jedenfalls langer Beifall im Prinzregententheater, kein Protest. Peter Ruzicka vergleicht nach der Premiere das Stück mit Helmut Lachenmanns epochalem ¸¸Mädchen mit den Schwefelhölzern". Zu Recht. Die Oper Brian Ferneyhoughs ist ein Höhepunkt moderner Opernkunst, und die bisher größte Koproduktion der Biennale. Aufführungen in London, Paris, New York, bei der Ruhrtriennale sind gebucht. Ein traumhaftes Finale für das Münchener Musiktheater-Festival.
WOLFGANG SCHREIBER |